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Das Leben von Fandras Lorano Buchenblatt
Posted by Tim E.
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Montag, Juni 09, 2008
Ich habe in den letzten drei Tagen eine Charaktergeschichte für einen Charakter des MMORPGs Ultima Online für den Server Siebenwind erstellt und möchte euch diese umfangreiche, wunderschöne und traurige Geschichte nicht vorenthalten. Und ja, ich bin schon stolz auf diesen Text.
Ihr wollt etwas über mich erfahren? Ich soll mein Leben umreißen, Euch Auskunft geben über Einschnitte und Abschnitte meines Seins? Ihr wollt über meine Herkunft erfahren, warum ich auf diesem Schiff nach Siebenwind bin, was meine Absichten sind? Nun, ich habe Zeit und bin gewillt, Euch eine Geschichte, genauer gesagt meine Geschichte, zu erzählen.
Mein Name ist Fandras Lorano Buchenblatt – und wahrscheinlich spuken nun schon Fragen wie „Warum ist sein Name von so sonderbarer Art?“ durch Eure Köpfe. Ich fange am Besten einmal ganz vorne an.
Geboren wurde ich am 3. Dular, 10 vor Hilgorad, also im Jahre 124 nach der Krönung Gernods.
Meiner Familie gehörte eine Parzelle in den Feuerwäldern der Kadamark in Galadon, Falandrien, in der sie Holz für den Baron zu Kadamark fällten. Obwohl die Geburt von Zwillingen an dem Festtag Vitamas eine besondere Ehre der Eltern sein sollte, waren sowohl mein Vater Albed als auch meine Mutter Gloria wenig begeistert. Das mir Wahrscheinlichste ist, dass es mit der Anzahl seiner Kinder zusammenhing. 4 Kinder, vielleicht sogar alles Söhne, wären eine göttliche Anzahl, doch mit 5 Kindern steht man verpönt und vielleicht auch als Böser verachtet, dar. Im Nachhinein bin ich verwundert, dass wir beide überlebten und nicht einer oder sogar beide getötet wurden.
Sie gaben mir den Namen Lorano, meiner Schwester den Namen Muriel. Zusammen mit meinen drei größeren Brüdern Thorben, Feestar und Ianos bildeten wir die Familie Baun, langjährige Holzfäller und recht tüchtige Lieferanten.
Während Muriel und ich zwischen Scheiten und Spänen Laufen und Reden lernten, mussten meine Brüder schon mit meinem grobschlächtigen Vater in den Wald, um den Holzvorrat anzulegen, der nötig war, um die Pacht zu bezahlen und den Lebensunterhalt zu verdienen. Grobschlächtig? Nun, er war wie man sich einen Arbeiter vorstellt, der den ganzen Tag zwischen fallenden, sterbenden Bäumen umher rennt und die nötigen Schläge mit der Axt setzt: Groß, kräftig und abgehärtet. Doch hinzu kamen Jähzorn, Wut und eine sehr geringe Aggressionsschwelle, bereits bei kleinsten Nichtigkeiten kam sein Groll zutage. So kam es auch an einigen Tagen zu Schlägen an seinen kleinen, kaum 5 Jahre alten Kindern – meiner Schwester und mir. Meine Mutter schien diese Grausamkeit und Ungerechtigkeit geschickt zu ignorieren, ich kann mich nicht erinnern, dass sie sich vor ihrem Mann jemals für uns eingesetzt hätte. Der einzige Ort, an dem wir uns sicher fühlten vor dem Leid, war der Wald. Verlassene Bauten von Tieren, Erdlöcher, Gruben zwischen den Wurzeln alter Eichen und Buchen, all dies schien wie geschaffen für uns kleine Kinder.
Muriel war es, die sich immer die abenteuerlichsten Geschichten ausdachte, in denen es sich fast immer um die Reise drehte, sei es weg von unserem Haus und den bösen Drachen, als welche wir unsere Eltern bezeichneten oder eine Fahrt mit dem Schiff, welches ein hohler Baum von enormer Länge war.
Muriel fand immer neue Verstecke, Nischen und Spielplätze, während meine größeren Brüder, insbesondere Feestar, uns, wenn auch selten, mit Fabeln oder Märchen beglückten – oder öfters noch – verängstigten.
Mein frühes Leben bis zu meinem 10. Lebensjahr bestand aus all diesen Elementen: Furcht, Flucht, Fantasie, selten einer schönen Tat der restlichen Familienmitglieder. Muriel und ich, wir waren unzertrennlich, gingen gemeinsam durch Dick und Dünn. Wir halfen uns, ergänzten uns, saß einer in der Klemme, half ihm der Andere. Nun, ehrlich gesagt half mir Muriel wohl häufiger als ich ihr, was wohl nicht zuletzt mit meiner extremen Schüchternheit zusammenhing.
Doch all dies änderte sich. Jedoch nicht, wie man hoffen könnte, zum Guten. Allenfalls zum Besseren, und das auch nur nach längerer Zeit und lediglich für mich. Doch ich erzähle Euch den gesamten Umstand.
Eines Abends im späten Bellum saßen wir in unserer Hütte bei dem allabendlichen Mahl, welches man wohl eher als notdürftiges Essen bezeichnen konnte, denn die Preise für Lebensmittel stiegen und wir verdienten nicht mehr Geld für das Fällen der Bäume als üblich. Das Essen neigte sich dem Ende und wieder, als mein Vater auf mich schaute, fing seine Hasstirade über mich an. „Nichtsnutz; zu klein ist er; kann nichts, sollte aber helfen“, solches, ähnliches und anderes regnete auf mich nieder. Es war sein liebstes Thema, zu lästern und zu dämmern über mich, sein fünftes, sein schlechtes, verkümmertes Kind. Doch an jenem Tag war es mehr, es war schlimmer denn je. Durch mich wurde seine Wut, sein Zorn auf die Bäume, den Wald, die Menschen, den Baron, das Steuersystem, die steuereintreibenden Ritter und Söldner kanalisiert und er ließ es ohne Gnade an mir aus.
Ich tat das in meinen Augen einzig richtige.
Ich floh.
Ich rannte in den Wald, rannte, weinte, die Sicht getrübt von Tränen, der Weg verschleiert durch die Nacht, die Ohren taub von dem Geschrei.
Ich rannte, überschritt die Grenze des von Muriel und mir erforschten und rannte so weit, so verletzt, so zerstört in meinem Inneren, bis ich sank auf die Beine, der Kräfte endgültig beraubt durch Verzweiflung und Not.
Und dann, dann kam die Angst.
Ich wurde umhüllt von der Nacht, der Kälte, den Mythen und Sagen, dem Glauben an das Böse und das Gemeine, den gruseligen Geräuschen und dem zerfressenden Alleinsein.
Ich weiß nicht mehr, wann ich in Schlaf sank, angelehnt an einen alten, großen Baum, Schutz suchend zwischen seinen mächtigen Wurzeln. Ich kann auch nicht sagen, wann ich erwachte, das Blätterdach war so dicht, dass lediglich ein diffuses Dämmern den Boden etwas erleuchtete, doch eine genauere Bestimmung der Tageszeit unmöglich war. Ich sah mich soweit um, wie es meine geringe Größe zuließ und entdeckte die Waldbühne. Nur in meiner Fantasie war sie der Platz, wo all die gedanken stattfinden sollten. Und so saß ich und wartete.
Das Erste, was aus dem Gebüsch auf mich zutrat, war die Natur. Groß und schön stand sie da, präsentierte sich mit all ihren Facetten und Raffinessen und verlangte mir eine Menge Faszination und Begeisterung ab. Pflanzen, die ich zuvor niemals sah: Übergroße Farne, seltsame, sich um Bäume rankende Gewächse, mit Stacheln bewehrte Stängel; ich war von der Vielzahl und der Größe, um nicht zu untertreiben, erschlagen.
Das Zweite, was in mein Sichtfeld trat, war die Erinnerung. Sie kam langsam, etwas hinkend, geschwächt durch die gestrige Anstrengung. Sie war geflohen von dem grausamen Heim, alleine und ohne Acht auf die Zukunft, mitten in den Wald. Mir schauderte.
Gleich hinter der Erinnerung kam die die dritte Person, die gegenwärtige Situation. Irgendwo in einem Teil eines Waldes sitzend, den sie nicht kannte, ohne Idee, von wo sie kam, ohne Orientierung. Ihr von Angst und Panik durchfurchtes Gesicht ließ mich wieder mit dem Weinen anfangen. Ein Schluchzen nur, doch als die Erkenntnis, die Vierte im Bunde, die Waldbühne betrat, brach ich wieder vollends in Tränen aus. Verlassen, allein… Ich hatte keine Hoffnung.
„Wie geht es nun weiter? Du hast ja überlebt, sonst säßest du uns zu diesem Zeitpunkt nicht gegenüber!“, werdet Ihr nun denken. Nun, ich will es Euch gerne sagen. Denn dies war der Zeitpunkt, wo sich mein gesamtes Leben ändern sollte.
Wie gesagt war ich feige, schwach und die Abenteurerin war immer Muriel gewesen. Alleine habe ich mich kaum zwei Schritte aus dem Hause gewagt. Und nun saß ich da so alleine, ohne eine helfende Hand, aber auch ohne Glauben, denn das war es, was man Muriel und mir vorbehielt. Und nur, um euch nicht schockend mit den Gedanken „Wir reden gerade mit einem Anhänger des Einen, einem Gottlosen!“ sitzen zu lassen sei gesagt: Ich glaube sehr wohl. Wie es dazu kam, erzähle ich auch noch. Nun will ich aber fortfahren mit meiner Geschichte.
Irgendwann beschloss ich, mich zu bewegen. Ich hatte Hunger und Durst und mir war bewusst, dass ich nicht ewig zwischen den Wurzeln eines Schwarzbaumes sitzen und auf Hilfe hoffen konnte. So stolperte ich zwischen Bäumen und Sträuchern, seltsamen Blumen und großen Gräsern umher, das Ziel vor Augen habend, aus dem Wald herauszufinden. Gegen Abend, der Tag neigte sich seinem Ende, fand ich endlich ein paar Beerensträucher mit mir bekannten Beeren, die ich gierig verzehrte. Nur meinen Durst konnte ich nicht stillen. So bedeckte ich mich mit Blättern einer tief über dem Boden wachsenden Pflanze und legte mich zwischen Wurzeln einer prächtigen Eiche zum Schlafe, auch wenn ich lange bangte und immer noch enorme Angst vor den Unwesen der Nacht hatte.
Der Morgen begrüßte mich mit Vogelgezwitscher und einer sich langsam ausbreitenden Wärme, die die zunehmende Kälte des Bellum etwas vertreiben sollte. Ich warf die Blätter beiseite und schüttelte mich, um die Nässe der Nacht aus meiner Kleidung zu vertreiben. Nässe? Wasser! Gierig schlürfte ich den Tau von mehreren großen Blättern, bis mir der Flüssigkeitsmangel behoben schien.
In den folgenden Tagen fühlte ich mich zunehmend sicherer, wenn auch nicht wirklich besser. Mein Nahrungsproblem schien durch das Sammeln von Beeren vorerst gedeckt, mein Durst durch Tau gestillt. Doch ich fand nicht aus dem Wald heraus. Beständig bleib sein Dach dicht, kein Weg, kein Pfad konnten mir die Richtung weisen. Und obwohl ich meiner Meinung nach weit lief, kam ich niemals an einen Steinwall, der das Ende einer jeden Parzelle markieren sollte.
So wanderte ich weiter. Ich verstand mich immer besser mit den Bäumen, die mir Unterhalt gewährten, genoss zusammen mit Kleintieren die Früchte des Waldes, die ich fand.
Nach vielleicht 5 Tagen, also einer Woche, änderte sich das Klima jedoch drastisch. Es wurde kalt, wirklich kalt, und auch zu der Mittagszeit war sie da, die Frostigkeit. Zu allem Überdruss fand ich kaum noch Früchte, mein Magen beschwerte sich stündlich über seine Leere.
Und auf einmal stand er vor mir. So groß wie ich, grau, mit blitzenden Augen und einem schimmernden, von dem Wind geglätteten Fell. Ich bemerkte den Wolf erst, als ich nur noch ein paar Fuß von ihm entfernt stand. Gelähmt und so steif wie ein Ast im allmorgendlichen Reif, so muss ich ausgesehen haben. Wir schauten uns an. Wir schauten uns lange an. Und als der Wolf sich auf einmal abwandte und ging, folgte ich ihm. Ich wusste, dass es richtig war.
Nun werdet Ihr „Du erzählst eine Geschichte, keiner folgt freiwillig einem Wolf“ oder ähnliches denken und mir Lügen vorwerfen, doch muss ich euch enttäuschen. Ich erzähle nur eine einzige Geschichte, nämlich die Meinige. Alles, was ich sage, ist wahr. Und der Grund, warum ich dem Wolf folgte? Ich denke, dass es Schicksal war und jemand mächtiges, dem etwas an mir lag, seine schützende Hand über mich hielt. Ich fühlte, dass es richtig war.
Wir liefen weit. Sehr weit. Wenn der Wolf stehen blieb, stoppte auch ich in gebührendem Abstand meine Schritte. Legte er sich des Abends hin und begann mit seinem Schlaf, suchte auch ich mir ein einfaches Lager, das mir Schutz vor der Kälte der Nacht geben sollte. Morgens war der Wolf stets da und erwachte immer eine kurze Zeit nach mir.
Als sich nach zwei Tagen die Umgebung änderte fand ich wieder mehr Nahrung und auch der Wind ließ etwas nach.
Obwohl die Reise mit dem Wolf meine ganze Energie kostete, war ich nicht enttäuscht oder sauer. Ich war in irgendeiner Weise glücklich. Zu der Maxime des Glücks wurde das Häuschen, was eines Morgens zwischen den hohen Farnen und Bäumen auftauchte. Eine kleine Hütte, inmitten des Waldes. Kleine Flächen, auf denen zu wärmeren Jahreszeiten Kräuter und Gemüse wachsen sollten, lagen um das Haus verteilt, ein kleiner Ofen aus Lehm war ebenfalls vorhanden.
Ich war entzückt. All meine Anstrengung der letzten Wochen wuchs noch einmal zu einem Punkt der gebündelten Spannung an, als ich zaghaft an die Tür klopfte.
Ich war auf vieles vorbereitet: Eine Hexe, die mich verspeisen wollte, einen alten, schrulligen, verschrumpelten Magier mit Bart und Hut, ich habe auch mit kleinen Gnomen gerechnet. Umso größer war meine Freude, als mir ein schlanker, großer Mann mit langem, goldenem Haar und grüner Kleidung, so grün wie der Wald im Astrael, die Tür öffnete. Seine Gesichtszüge, wenn auch eine leichte Verwunderung ausdrückend, beruhigten mich zutiefst und es wuchs in mir die Hoffnung, einen wahrhaft netten Menschen gefunden zu haben.
Wie sich im Nachhinein herausstellte, war er jedoch kein Mensch, sondern ein in der Ebene von Mantrill, genauer den Kernwäldern der Kadamark lebender Elf, der sich von den Gaben der Natur ernährte und sein Leben in aller Ruhe in diesem vor Rodung geschützten Gebiet verbrachte. Er erkannte schnell meine Not, was wahrscheinlich keine Kunst darstellte, da ein kleiner Junge, bekleidet lediglich mit einer Leinenhose sowie eines etwas dickeren Hemdes, inmitten der Kälte des Bellums mehr oder weniger frieren muss. Maeglin Súrion, das war der Name des Waldelfen, der mich in sein Haus bot, meine Kräfte mit Essen, wie ich es längst vergessen hatte und meist nicht einmal kannte, stärkte und sich meine Geschichte anhörte.
Ich könnte Euch viel über ihn erzählen, doch spränge das den Rahmen.
Maeglin nahm mich auf, er war es, der mir auch den Glauben, ein Bastard zu sein, nahm, und es auf das Schicksal der Götter zurückführte, dass ich noch am Leben sei. Er war es auch, der mir, der ich nie viel über die Götter erfahren hatte, die Lehre der Vier, besonders die Vitamas, unterrichtete und mir auch die Elementargöttin Tevra, bei den Menschen auch Rien genannt, nahelegte.
Maeglin war ein Waldläufer, der schon sehr lange in den Kernwäldern lebte und sich ein behagliches Zuhause angelegt hatte. Er pflanzte Gemüse, Getreide und Kräuter in den vorhin genannten Beeten an, buk eigenes Brot in dem kleinen Lehmofen, er schneiderte sich selbst die Kleidung, die er brauchte und nur, wenn er wirklich hungrig war, nahm er sich eines von Riens Rehen, um es vollständig zu verwerten. Ich lernte, wie man aus dem Fell Kleidung, aus den Knochen Waffen und Werkzeug herstellen konnte oder auch, wie man das Geweih eines Hirsches zu einem schmucken und funktionstüchtigen Bogen umzufunktionieren vermag.
Man muss wirklich sagen, dass ich Glück hatte, an eine solch bedächtige Person zu geraten, die jede ihrer Schritte mit Sorgfalt plante und nur das von anderen nahm, um selbst zu überleben. Er tötete nicht Bäume, die, wie er mir beibrachte, auch lebten, er war genau das Gegenteil meines hasserfüllten und grausamen Vaters.
Sorgfältig zog er mich auf, lehrte mich das Schießen mit dem Bogen, das Anbauen von Lebensmitteln wie Gemüse und Getreide, das Lesen von Fährten unter schwierigsten Bedingungen.
„Solange du weißt, wo du bist und wo die Person ist, deren Spuren du ließt, kann dir nur wenig Unerwartetes passieren. Es sei denn, sein Komplize, der auf einem Baum so leise schlief, dass du ihn nicht hören konntest, fällt auf einmal auf dich nieder und wirft dich um.“, sprach er einmal zu mir.
Er teilte sein Waldläuferleben mit mir, zog mich auf wie seinen eigenen Sohn, er zeigte mir dir Liebe, die ich mir immer wünschte.
So zogen die Jahre in das Land und gleich, ob ich mich in dem Sprechen und Schreiben von Sprachen übte, mit Maeglin den Wald durchwanderte oder mit dem Wolf, den ich richtig in mein Herz geschlossen hatte, spielte, ich wurde zunehmend der Waldläufer, dieses Individuum des mit der Natur in Einklang und Frieden lebenden, welcher ich immer sein wollte.
Zu meinem 21. Geburtstag bekam ich von Maeglin einen neuen, weiteren Namen, den ich fortan tragen werde, als Erinnerung an meinen Lehrer und Freund.
„Fandras Lorano, der, der aus dem Buchenwald kam und eines kalten Tages an meine Tür klopfte, so sollst du heißen in deinem noch lange anhaltendem Leben“, sagte er, obwohl ich den Namen Lorano, welcher mich an meine Eltern erinnerte, am Liebsten abgelegt hätte. Doch es war Maeglins Wille, diesen Namen zu behalten, auch wenn ich mich nicht mit ihm rufen lasse.
„Es gibt Gutes, als auch Böses in eines jeden Leben. Dir ist Böses, aber auch Gutes wiederfahren. Trage diese beiden Namen als Zeugnis, wie du sowohl Gut, als auch Böse durchgingest und vergiss niemals, von wo du kamst, verwische nicht die Spuren, die du selbst ziehst in den dunklen Wäldern des Seins. So tief du auch in Wald gehst, kommst du immer wieder hinaus, kannst du denn deine eigene Fährte zurückverfolgen. Vergiss dies nie!“
Es war im Jahre 16 nach der Krönung Hilgorads, als mir Maeglin eines trüben Morgens des Onar über die stets voranschreitenden Rodungen in den nahe gelegenen Feuerwäldern berichtete und mich nach so vielen Jahren des Vergessens und auch teilweise Versteckens wieder an meine Flucht aus eben jenen Wäldern und meiner schrecklichen Familie erinnerte. Ich begann, mir wieder Gedanken zu machen, über den Wald, unsere Parzelle, unsere Hütte, meine Mutter, meinen Vater, meine drei größeren Brüder – und Muriel.
„Muriel… was ist nur aus dir geworden?“ Muriel war so lebensfroh, so energiegeladen, so voller Drang, die Welt zu sehen, sie war nicht so wie die Anderen. Mir wurde flau um mein im Gegensatz zu Maeglin unglaublich kurzzeitig schlagendes Herz und Trauer tat sich in mir auf. Fast 15 Jahre war meine Flucht her, 15 Jahre sind in das Land gezogen, ohne dass ich jemals nach meiner geliebten Schwester schaute, es wagte, unserem Hof, ja überhaupt den Feuerwäldern nahe zu kommen.
Ich war groß geworden, fast 5,9 Fuß maß ich, aus dem einst so kleinen und ängstlichen Lorano war ein mit der Natur vereinter, erwachsener Fandras geworden. Ich beschloss, meiner Angst und Wut vor den Kreaturen des schamlosen Tötens der von Gott geschenkten Pflanzen ins Auge zu blicken und mich diesem alten, trotz aller Stunden der Besinnlichkeit und Meditation in mir ruhenden, Trauma zu stellen.
So zog ich, geleitet von des Wolfes Schweife, gen Westen, direkt auf meine Geburtsstätte zu, ich durchwanderte bekannte, doch auch schon bald mir unbekannte Gebiete, in denen ich vielleicht vor 15 Jahren planlos irrte. Die Flora änderte sich rasch und ich stand alsbald vor den alten, mir durchaus bekannten Schwarzbäumen, Eichen und Buchen, die ich auch als Kind so oft sah. Nur zu gut erkannte ich schon von Ferne, sofern es die mannshohen Farne zuließen, den Steinwall, der das Ende einer Parzelle markieren sollte. Und schon bald, viel zu schnell, stoppte mein guter, alter Freund und setzte sich wartend zwischen einen Baum und seinen durch eine oder zwei Äxte getrennten Stumpf. Die nächsten hundert Fuß, die mir eher wie Tausende vorkamen, waren wie ein Gang durch mein Leben. Und mit jedem Schritt erinnerte ich mich an einen Teil aus meiner Kindheit, an die schönen Stunden mit Muriel zwischen Wurzeln und Erdlöchern, und an die schwarzen Stunden, in denen wir gepeinigt.
Doch als man mir die Tür unseres Hauses öffnete, nachdem ich aus der Ferne keinen Bewohner desselben ausfindig machen konnte, war es nicht mein Vater, der mir entgegen blickte. Es war auch nicht meine Mutter oder ein jemand anderer aus meiner Familie. Vor mir stand ein mir völlig unbekannter Mann.
Nachdem solche Begrüßungsfloskeln wie das gegenseitige Mustern, das Naserümpfen und der ausbleibende Handgruß stattfanden, erfuhr ich schnell, was in diesen 15 Jahren vorgefallen war.
Immer weiter durch die wachsenden Steuern und Pacht an das Existenzminimum gedrängt, musste meine Familie die Parzelle verlassen, sie hatte wohl nicht genug Arbeitskräfte, um der Nachfrage standzuhalten. Auf meine Frage an den Mann, ob er wisse, wo die Familie Baun, ich vermeide es, sie als meine Familie zu bezeichnen, infolge der Aufgabe des Betriebs hinzog, konnte mir der Mann keine Antwort geben. Er hätte nur eines Tages, nach Anfrage eine Parzelle bewohnen und bearbeiten zu dürfen, eben diese zugewiesen bekommen.
Ich verabschiedete mich zwar dankend für die Informationen, doch wütend in meinem Herzen, der Geruch von totem Holz hatte lange genug in meiner Nase gerastet. Bevor ich zu Maeglin zurückkehrte, schaute ich mich ein letztes Mal um und schwor, niemals in meinem Leben wieder an diesen Ort zurückzukehren. Obgleich mir mein Lehrer durch seine elfische Art Ruhe lehrte, wächst mein Zorn noch heute zu erschreckendem Maße, treffe ich einen Fäller des Holzes, einen Mörder der Natur, einen Schänder der Gabe der Götter, an.
Zurück in der Hütte von Maeglin, die auch meine Wohnung war, dachte ich lange über das mögliche Leben meiner Schwester nach, über das, was wohl passiert war und ist.
Mein Entschluss, meine Folgerung aus dem Grübeln der Nacht, tat ich meinem Freund Maeglin am folgenden Morgen mit. Und obwohl mein Entschluss mit dem Verlassen des vertrauten Heims, meines Zuhauses, zusammenhing und die körperliche Entfernung von meinem Lehrer, Vater und Freund, Maeglin Súrion, schien dieser eher zufrieden und glücklich, als enttäuscht und betrübt über meine Entscheidung. Seine Worte, dass er gerechnet habe mit diesem Entschluss schon seit langer Zeit und er den gleichen Entschluss an Stelle meiner getroffen hätte, werden mir mein Leben lang in Erinnerung bleiben.
So war ich frei, gesegnet, auf das Leben vorbereitet und mit dem Wunsch, meine Schwester wiederzufinden, verließ ich die Kernwälder und die Kadamark. Der Ring aus dem Holz einer Buche des Gartens von Maeglin Súrion, der fortan meinen linken Ringfinger ziert, ist das letzte Geschenk, das mir mein Lehrer machte.
Ich bin weit gewandert, durch manche Städte bin ich gezogen und manche habe ich großzügig umrundet, immer in den Gedanken, dass wenn ich meine Schwester wiederfinden sollte, sie irgendwo da draußen, in dieser großen Welt sein sollte.
Und in der Hoffnung, dass diese Abenteuerin, deren glänzende Augen sich niemals trübten, war das Wetter auch noch so schlecht, sich entfernen konnte von den Fängen der Ungerechtigkeit und sie auswanderte, in die Teile Tares‘, zu denen ihr Herz immer fliegen wollte, suche ich nach ihr überall dort, wo auch meine Beine mich hintragen.
Ihr wolltet wissen, wie ich auf dieses Schiff nach Siebenwind gelangte? Nun solltet Ihr es wissen.
Ihr wollt etwas über mich erfahren? Ich soll mein Leben umreißen, Euch Auskunft geben über Einschnitte und Abschnitte meines Seins? Ihr wollt über meine Herkunft erfahren, warum ich auf diesem Schiff nach Siebenwind bin, was meine Absichten sind? Nun, ich habe Zeit und bin gewillt, Euch eine Geschichte, genauer gesagt meine Geschichte, zu erzählen.
Mein Name ist Fandras Lorano Buchenblatt – und wahrscheinlich spuken nun schon Fragen wie „Warum ist sein Name von so sonderbarer Art?“ durch Eure Köpfe. Ich fange am Besten einmal ganz vorne an.
Geboren wurde ich am 3. Dular, 10 vor Hilgorad, also im Jahre 124 nach der Krönung Gernods.
Meiner Familie gehörte eine Parzelle in den Feuerwäldern der Kadamark in Galadon, Falandrien, in der sie Holz für den Baron zu Kadamark fällten. Obwohl die Geburt von Zwillingen an dem Festtag Vitamas eine besondere Ehre der Eltern sein sollte, waren sowohl mein Vater Albed als auch meine Mutter Gloria wenig begeistert. Das mir Wahrscheinlichste ist, dass es mit der Anzahl seiner Kinder zusammenhing. 4 Kinder, vielleicht sogar alles Söhne, wären eine göttliche Anzahl, doch mit 5 Kindern steht man verpönt und vielleicht auch als Böser verachtet, dar. Im Nachhinein bin ich verwundert, dass wir beide überlebten und nicht einer oder sogar beide getötet wurden.
Sie gaben mir den Namen Lorano, meiner Schwester den Namen Muriel. Zusammen mit meinen drei größeren Brüdern Thorben, Feestar und Ianos bildeten wir die Familie Baun, langjährige Holzfäller und recht tüchtige Lieferanten.
Während Muriel und ich zwischen Scheiten und Spänen Laufen und Reden lernten, mussten meine Brüder schon mit meinem grobschlächtigen Vater in den Wald, um den Holzvorrat anzulegen, der nötig war, um die Pacht zu bezahlen und den Lebensunterhalt zu verdienen. Grobschlächtig? Nun, er war wie man sich einen Arbeiter vorstellt, der den ganzen Tag zwischen fallenden, sterbenden Bäumen umher rennt und die nötigen Schläge mit der Axt setzt: Groß, kräftig und abgehärtet. Doch hinzu kamen Jähzorn, Wut und eine sehr geringe Aggressionsschwelle, bereits bei kleinsten Nichtigkeiten kam sein Groll zutage. So kam es auch an einigen Tagen zu Schlägen an seinen kleinen, kaum 5 Jahre alten Kindern – meiner Schwester und mir. Meine Mutter schien diese Grausamkeit und Ungerechtigkeit geschickt zu ignorieren, ich kann mich nicht erinnern, dass sie sich vor ihrem Mann jemals für uns eingesetzt hätte. Der einzige Ort, an dem wir uns sicher fühlten vor dem Leid, war der Wald. Verlassene Bauten von Tieren, Erdlöcher, Gruben zwischen den Wurzeln alter Eichen und Buchen, all dies schien wie geschaffen für uns kleine Kinder.
Muriel war es, die sich immer die abenteuerlichsten Geschichten ausdachte, in denen es sich fast immer um die Reise drehte, sei es weg von unserem Haus und den bösen Drachen, als welche wir unsere Eltern bezeichneten oder eine Fahrt mit dem Schiff, welches ein hohler Baum von enormer Länge war.
Muriel fand immer neue Verstecke, Nischen und Spielplätze, während meine größeren Brüder, insbesondere Feestar, uns, wenn auch selten, mit Fabeln oder Märchen beglückten – oder öfters noch – verängstigten.
Mein frühes Leben bis zu meinem 10. Lebensjahr bestand aus all diesen Elementen: Furcht, Flucht, Fantasie, selten einer schönen Tat der restlichen Familienmitglieder. Muriel und ich, wir waren unzertrennlich, gingen gemeinsam durch Dick und Dünn. Wir halfen uns, ergänzten uns, saß einer in der Klemme, half ihm der Andere. Nun, ehrlich gesagt half mir Muriel wohl häufiger als ich ihr, was wohl nicht zuletzt mit meiner extremen Schüchternheit zusammenhing.
Doch all dies änderte sich. Jedoch nicht, wie man hoffen könnte, zum Guten. Allenfalls zum Besseren, und das auch nur nach längerer Zeit und lediglich für mich. Doch ich erzähle Euch den gesamten Umstand.
Eines Abends im späten Bellum saßen wir in unserer Hütte bei dem allabendlichen Mahl, welches man wohl eher als notdürftiges Essen bezeichnen konnte, denn die Preise für Lebensmittel stiegen und wir verdienten nicht mehr Geld für das Fällen der Bäume als üblich. Das Essen neigte sich dem Ende und wieder, als mein Vater auf mich schaute, fing seine Hasstirade über mich an. „Nichtsnutz; zu klein ist er; kann nichts, sollte aber helfen“, solches, ähnliches und anderes regnete auf mich nieder. Es war sein liebstes Thema, zu lästern und zu dämmern über mich, sein fünftes, sein schlechtes, verkümmertes Kind. Doch an jenem Tag war es mehr, es war schlimmer denn je. Durch mich wurde seine Wut, sein Zorn auf die Bäume, den Wald, die Menschen, den Baron, das Steuersystem, die steuereintreibenden Ritter und Söldner kanalisiert und er ließ es ohne Gnade an mir aus.
Ich tat das in meinen Augen einzig richtige.
Ich floh.
Ich rannte in den Wald, rannte, weinte, die Sicht getrübt von Tränen, der Weg verschleiert durch die Nacht, die Ohren taub von dem Geschrei.
Ich rannte, überschritt die Grenze des von Muriel und mir erforschten und rannte so weit, so verletzt, so zerstört in meinem Inneren, bis ich sank auf die Beine, der Kräfte endgültig beraubt durch Verzweiflung und Not.
Und dann, dann kam die Angst.
Ich wurde umhüllt von der Nacht, der Kälte, den Mythen und Sagen, dem Glauben an das Böse und das Gemeine, den gruseligen Geräuschen und dem zerfressenden Alleinsein.
Ich weiß nicht mehr, wann ich in Schlaf sank, angelehnt an einen alten, großen Baum, Schutz suchend zwischen seinen mächtigen Wurzeln. Ich kann auch nicht sagen, wann ich erwachte, das Blätterdach war so dicht, dass lediglich ein diffuses Dämmern den Boden etwas erleuchtete, doch eine genauere Bestimmung der Tageszeit unmöglich war. Ich sah mich soweit um, wie es meine geringe Größe zuließ und entdeckte die Waldbühne. Nur in meiner Fantasie war sie der Platz, wo all die gedanken stattfinden sollten. Und so saß ich und wartete.
Das Erste, was aus dem Gebüsch auf mich zutrat, war die Natur. Groß und schön stand sie da, präsentierte sich mit all ihren Facetten und Raffinessen und verlangte mir eine Menge Faszination und Begeisterung ab. Pflanzen, die ich zuvor niemals sah: Übergroße Farne, seltsame, sich um Bäume rankende Gewächse, mit Stacheln bewehrte Stängel; ich war von der Vielzahl und der Größe, um nicht zu untertreiben, erschlagen.
Das Zweite, was in mein Sichtfeld trat, war die Erinnerung. Sie kam langsam, etwas hinkend, geschwächt durch die gestrige Anstrengung. Sie war geflohen von dem grausamen Heim, alleine und ohne Acht auf die Zukunft, mitten in den Wald. Mir schauderte.
Gleich hinter der Erinnerung kam die die dritte Person, die gegenwärtige Situation. Irgendwo in einem Teil eines Waldes sitzend, den sie nicht kannte, ohne Idee, von wo sie kam, ohne Orientierung. Ihr von Angst und Panik durchfurchtes Gesicht ließ mich wieder mit dem Weinen anfangen. Ein Schluchzen nur, doch als die Erkenntnis, die Vierte im Bunde, die Waldbühne betrat, brach ich wieder vollends in Tränen aus. Verlassen, allein… Ich hatte keine Hoffnung.
„Wie geht es nun weiter? Du hast ja überlebt, sonst säßest du uns zu diesem Zeitpunkt nicht gegenüber!“, werdet Ihr nun denken. Nun, ich will es Euch gerne sagen. Denn dies war der Zeitpunkt, wo sich mein gesamtes Leben ändern sollte.
Wie gesagt war ich feige, schwach und die Abenteurerin war immer Muriel gewesen. Alleine habe ich mich kaum zwei Schritte aus dem Hause gewagt. Und nun saß ich da so alleine, ohne eine helfende Hand, aber auch ohne Glauben, denn das war es, was man Muriel und mir vorbehielt. Und nur, um euch nicht schockend mit den Gedanken „Wir reden gerade mit einem Anhänger des Einen, einem Gottlosen!“ sitzen zu lassen sei gesagt: Ich glaube sehr wohl. Wie es dazu kam, erzähle ich auch noch. Nun will ich aber fortfahren mit meiner Geschichte.
Irgendwann beschloss ich, mich zu bewegen. Ich hatte Hunger und Durst und mir war bewusst, dass ich nicht ewig zwischen den Wurzeln eines Schwarzbaumes sitzen und auf Hilfe hoffen konnte. So stolperte ich zwischen Bäumen und Sträuchern, seltsamen Blumen und großen Gräsern umher, das Ziel vor Augen habend, aus dem Wald herauszufinden. Gegen Abend, der Tag neigte sich seinem Ende, fand ich endlich ein paar Beerensträucher mit mir bekannten Beeren, die ich gierig verzehrte. Nur meinen Durst konnte ich nicht stillen. So bedeckte ich mich mit Blättern einer tief über dem Boden wachsenden Pflanze und legte mich zwischen Wurzeln einer prächtigen Eiche zum Schlafe, auch wenn ich lange bangte und immer noch enorme Angst vor den Unwesen der Nacht hatte.
Der Morgen begrüßte mich mit Vogelgezwitscher und einer sich langsam ausbreitenden Wärme, die die zunehmende Kälte des Bellum etwas vertreiben sollte. Ich warf die Blätter beiseite und schüttelte mich, um die Nässe der Nacht aus meiner Kleidung zu vertreiben. Nässe? Wasser! Gierig schlürfte ich den Tau von mehreren großen Blättern, bis mir der Flüssigkeitsmangel behoben schien.
In den folgenden Tagen fühlte ich mich zunehmend sicherer, wenn auch nicht wirklich besser. Mein Nahrungsproblem schien durch das Sammeln von Beeren vorerst gedeckt, mein Durst durch Tau gestillt. Doch ich fand nicht aus dem Wald heraus. Beständig bleib sein Dach dicht, kein Weg, kein Pfad konnten mir die Richtung weisen. Und obwohl ich meiner Meinung nach weit lief, kam ich niemals an einen Steinwall, der das Ende einer jeden Parzelle markieren sollte.
So wanderte ich weiter. Ich verstand mich immer besser mit den Bäumen, die mir Unterhalt gewährten, genoss zusammen mit Kleintieren die Früchte des Waldes, die ich fand.
Nach vielleicht 5 Tagen, also einer Woche, änderte sich das Klima jedoch drastisch. Es wurde kalt, wirklich kalt, und auch zu der Mittagszeit war sie da, die Frostigkeit. Zu allem Überdruss fand ich kaum noch Früchte, mein Magen beschwerte sich stündlich über seine Leere.
Und auf einmal stand er vor mir. So groß wie ich, grau, mit blitzenden Augen und einem schimmernden, von dem Wind geglätteten Fell. Ich bemerkte den Wolf erst, als ich nur noch ein paar Fuß von ihm entfernt stand. Gelähmt und so steif wie ein Ast im allmorgendlichen Reif, so muss ich ausgesehen haben. Wir schauten uns an. Wir schauten uns lange an. Und als der Wolf sich auf einmal abwandte und ging, folgte ich ihm. Ich wusste, dass es richtig war.
Nun werdet Ihr „Du erzählst eine Geschichte, keiner folgt freiwillig einem Wolf“ oder ähnliches denken und mir Lügen vorwerfen, doch muss ich euch enttäuschen. Ich erzähle nur eine einzige Geschichte, nämlich die Meinige. Alles, was ich sage, ist wahr. Und der Grund, warum ich dem Wolf folgte? Ich denke, dass es Schicksal war und jemand mächtiges, dem etwas an mir lag, seine schützende Hand über mich hielt. Ich fühlte, dass es richtig war.
Wir liefen weit. Sehr weit. Wenn der Wolf stehen blieb, stoppte auch ich in gebührendem Abstand meine Schritte. Legte er sich des Abends hin und begann mit seinem Schlaf, suchte auch ich mir ein einfaches Lager, das mir Schutz vor der Kälte der Nacht geben sollte. Morgens war der Wolf stets da und erwachte immer eine kurze Zeit nach mir.
Als sich nach zwei Tagen die Umgebung änderte fand ich wieder mehr Nahrung und auch der Wind ließ etwas nach.
Obwohl die Reise mit dem Wolf meine ganze Energie kostete, war ich nicht enttäuscht oder sauer. Ich war in irgendeiner Weise glücklich. Zu der Maxime des Glücks wurde das Häuschen, was eines Morgens zwischen den hohen Farnen und Bäumen auftauchte. Eine kleine Hütte, inmitten des Waldes. Kleine Flächen, auf denen zu wärmeren Jahreszeiten Kräuter und Gemüse wachsen sollten, lagen um das Haus verteilt, ein kleiner Ofen aus Lehm war ebenfalls vorhanden.
Ich war entzückt. All meine Anstrengung der letzten Wochen wuchs noch einmal zu einem Punkt der gebündelten Spannung an, als ich zaghaft an die Tür klopfte.
Ich war auf vieles vorbereitet: Eine Hexe, die mich verspeisen wollte, einen alten, schrulligen, verschrumpelten Magier mit Bart und Hut, ich habe auch mit kleinen Gnomen gerechnet. Umso größer war meine Freude, als mir ein schlanker, großer Mann mit langem, goldenem Haar und grüner Kleidung, so grün wie der Wald im Astrael, die Tür öffnete. Seine Gesichtszüge, wenn auch eine leichte Verwunderung ausdrückend, beruhigten mich zutiefst und es wuchs in mir die Hoffnung, einen wahrhaft netten Menschen gefunden zu haben.
Wie sich im Nachhinein herausstellte, war er jedoch kein Mensch, sondern ein in der Ebene von Mantrill, genauer den Kernwäldern der Kadamark lebender Elf, der sich von den Gaben der Natur ernährte und sein Leben in aller Ruhe in diesem vor Rodung geschützten Gebiet verbrachte. Er erkannte schnell meine Not, was wahrscheinlich keine Kunst darstellte, da ein kleiner Junge, bekleidet lediglich mit einer Leinenhose sowie eines etwas dickeren Hemdes, inmitten der Kälte des Bellums mehr oder weniger frieren muss. Maeglin Súrion, das war der Name des Waldelfen, der mich in sein Haus bot, meine Kräfte mit Essen, wie ich es längst vergessen hatte und meist nicht einmal kannte, stärkte und sich meine Geschichte anhörte.
Ich könnte Euch viel über ihn erzählen, doch spränge das den Rahmen.
Maeglin nahm mich auf, er war es, der mir auch den Glauben, ein Bastard zu sein, nahm, und es auf das Schicksal der Götter zurückführte, dass ich noch am Leben sei. Er war es auch, der mir, der ich nie viel über die Götter erfahren hatte, die Lehre der Vier, besonders die Vitamas, unterrichtete und mir auch die Elementargöttin Tevra, bei den Menschen auch Rien genannt, nahelegte.
Maeglin war ein Waldläufer, der schon sehr lange in den Kernwäldern lebte und sich ein behagliches Zuhause angelegt hatte. Er pflanzte Gemüse, Getreide und Kräuter in den vorhin genannten Beeten an, buk eigenes Brot in dem kleinen Lehmofen, er schneiderte sich selbst die Kleidung, die er brauchte und nur, wenn er wirklich hungrig war, nahm er sich eines von Riens Rehen, um es vollständig zu verwerten. Ich lernte, wie man aus dem Fell Kleidung, aus den Knochen Waffen und Werkzeug herstellen konnte oder auch, wie man das Geweih eines Hirsches zu einem schmucken und funktionstüchtigen Bogen umzufunktionieren vermag.
Man muss wirklich sagen, dass ich Glück hatte, an eine solch bedächtige Person zu geraten, die jede ihrer Schritte mit Sorgfalt plante und nur das von anderen nahm, um selbst zu überleben. Er tötete nicht Bäume, die, wie er mir beibrachte, auch lebten, er war genau das Gegenteil meines hasserfüllten und grausamen Vaters.
Sorgfältig zog er mich auf, lehrte mich das Schießen mit dem Bogen, das Anbauen von Lebensmitteln wie Gemüse und Getreide, das Lesen von Fährten unter schwierigsten Bedingungen.
„Solange du weißt, wo du bist und wo die Person ist, deren Spuren du ließt, kann dir nur wenig Unerwartetes passieren. Es sei denn, sein Komplize, der auf einem Baum so leise schlief, dass du ihn nicht hören konntest, fällt auf einmal auf dich nieder und wirft dich um.“, sprach er einmal zu mir.
Er teilte sein Waldläuferleben mit mir, zog mich auf wie seinen eigenen Sohn, er zeigte mir dir Liebe, die ich mir immer wünschte.
So zogen die Jahre in das Land und gleich, ob ich mich in dem Sprechen und Schreiben von Sprachen übte, mit Maeglin den Wald durchwanderte oder mit dem Wolf, den ich richtig in mein Herz geschlossen hatte, spielte, ich wurde zunehmend der Waldläufer, dieses Individuum des mit der Natur in Einklang und Frieden lebenden, welcher ich immer sein wollte.
Zu meinem 21. Geburtstag bekam ich von Maeglin einen neuen, weiteren Namen, den ich fortan tragen werde, als Erinnerung an meinen Lehrer und Freund.
„Fandras Lorano, der, der aus dem Buchenwald kam und eines kalten Tages an meine Tür klopfte, so sollst du heißen in deinem noch lange anhaltendem Leben“, sagte er, obwohl ich den Namen Lorano, welcher mich an meine Eltern erinnerte, am Liebsten abgelegt hätte. Doch es war Maeglins Wille, diesen Namen zu behalten, auch wenn ich mich nicht mit ihm rufen lasse.
„Es gibt Gutes, als auch Böses in eines jeden Leben. Dir ist Böses, aber auch Gutes wiederfahren. Trage diese beiden Namen als Zeugnis, wie du sowohl Gut, als auch Böse durchgingest und vergiss niemals, von wo du kamst, verwische nicht die Spuren, die du selbst ziehst in den dunklen Wäldern des Seins. So tief du auch in Wald gehst, kommst du immer wieder hinaus, kannst du denn deine eigene Fährte zurückverfolgen. Vergiss dies nie!“
Es war im Jahre 16 nach der Krönung Hilgorads, als mir Maeglin eines trüben Morgens des Onar über die stets voranschreitenden Rodungen in den nahe gelegenen Feuerwäldern berichtete und mich nach so vielen Jahren des Vergessens und auch teilweise Versteckens wieder an meine Flucht aus eben jenen Wäldern und meiner schrecklichen Familie erinnerte. Ich begann, mir wieder Gedanken zu machen, über den Wald, unsere Parzelle, unsere Hütte, meine Mutter, meinen Vater, meine drei größeren Brüder – und Muriel.
„Muriel… was ist nur aus dir geworden?“ Muriel war so lebensfroh, so energiegeladen, so voller Drang, die Welt zu sehen, sie war nicht so wie die Anderen. Mir wurde flau um mein im Gegensatz zu Maeglin unglaublich kurzzeitig schlagendes Herz und Trauer tat sich in mir auf. Fast 15 Jahre war meine Flucht her, 15 Jahre sind in das Land gezogen, ohne dass ich jemals nach meiner geliebten Schwester schaute, es wagte, unserem Hof, ja überhaupt den Feuerwäldern nahe zu kommen.
Ich war groß geworden, fast 5,9 Fuß maß ich, aus dem einst so kleinen und ängstlichen Lorano war ein mit der Natur vereinter, erwachsener Fandras geworden. Ich beschloss, meiner Angst und Wut vor den Kreaturen des schamlosen Tötens der von Gott geschenkten Pflanzen ins Auge zu blicken und mich diesem alten, trotz aller Stunden der Besinnlichkeit und Meditation in mir ruhenden, Trauma zu stellen.
So zog ich, geleitet von des Wolfes Schweife, gen Westen, direkt auf meine Geburtsstätte zu, ich durchwanderte bekannte, doch auch schon bald mir unbekannte Gebiete, in denen ich vielleicht vor 15 Jahren planlos irrte. Die Flora änderte sich rasch und ich stand alsbald vor den alten, mir durchaus bekannten Schwarzbäumen, Eichen und Buchen, die ich auch als Kind so oft sah. Nur zu gut erkannte ich schon von Ferne, sofern es die mannshohen Farne zuließen, den Steinwall, der das Ende einer Parzelle markieren sollte. Und schon bald, viel zu schnell, stoppte mein guter, alter Freund und setzte sich wartend zwischen einen Baum und seinen durch eine oder zwei Äxte getrennten Stumpf. Die nächsten hundert Fuß, die mir eher wie Tausende vorkamen, waren wie ein Gang durch mein Leben. Und mit jedem Schritt erinnerte ich mich an einen Teil aus meiner Kindheit, an die schönen Stunden mit Muriel zwischen Wurzeln und Erdlöchern, und an die schwarzen Stunden, in denen wir gepeinigt.
Doch als man mir die Tür unseres Hauses öffnete, nachdem ich aus der Ferne keinen Bewohner desselben ausfindig machen konnte, war es nicht mein Vater, der mir entgegen blickte. Es war auch nicht meine Mutter oder ein jemand anderer aus meiner Familie. Vor mir stand ein mir völlig unbekannter Mann.
Nachdem solche Begrüßungsfloskeln wie das gegenseitige Mustern, das Naserümpfen und der ausbleibende Handgruß stattfanden, erfuhr ich schnell, was in diesen 15 Jahren vorgefallen war.
Immer weiter durch die wachsenden Steuern und Pacht an das Existenzminimum gedrängt, musste meine Familie die Parzelle verlassen, sie hatte wohl nicht genug Arbeitskräfte, um der Nachfrage standzuhalten. Auf meine Frage an den Mann, ob er wisse, wo die Familie Baun, ich vermeide es, sie als meine Familie zu bezeichnen, infolge der Aufgabe des Betriebs hinzog, konnte mir der Mann keine Antwort geben. Er hätte nur eines Tages, nach Anfrage eine Parzelle bewohnen und bearbeiten zu dürfen, eben diese zugewiesen bekommen.
Ich verabschiedete mich zwar dankend für die Informationen, doch wütend in meinem Herzen, der Geruch von totem Holz hatte lange genug in meiner Nase gerastet. Bevor ich zu Maeglin zurückkehrte, schaute ich mich ein letztes Mal um und schwor, niemals in meinem Leben wieder an diesen Ort zurückzukehren. Obgleich mir mein Lehrer durch seine elfische Art Ruhe lehrte, wächst mein Zorn noch heute zu erschreckendem Maße, treffe ich einen Fäller des Holzes, einen Mörder der Natur, einen Schänder der Gabe der Götter, an.
Zurück in der Hütte von Maeglin, die auch meine Wohnung war, dachte ich lange über das mögliche Leben meiner Schwester nach, über das, was wohl passiert war und ist.
Mein Entschluss, meine Folgerung aus dem Grübeln der Nacht, tat ich meinem Freund Maeglin am folgenden Morgen mit. Und obwohl mein Entschluss mit dem Verlassen des vertrauten Heims, meines Zuhauses, zusammenhing und die körperliche Entfernung von meinem Lehrer, Vater und Freund, Maeglin Súrion, schien dieser eher zufrieden und glücklich, als enttäuscht und betrübt über meine Entscheidung. Seine Worte, dass er gerechnet habe mit diesem Entschluss schon seit langer Zeit und er den gleichen Entschluss an Stelle meiner getroffen hätte, werden mir mein Leben lang in Erinnerung bleiben.
So war ich frei, gesegnet, auf das Leben vorbereitet und mit dem Wunsch, meine Schwester wiederzufinden, verließ ich die Kernwälder und die Kadamark. Der Ring aus dem Holz einer Buche des Gartens von Maeglin Súrion, der fortan meinen linken Ringfinger ziert, ist das letzte Geschenk, das mir mein Lehrer machte.
Ich bin weit gewandert, durch manche Städte bin ich gezogen und manche habe ich großzügig umrundet, immer in den Gedanken, dass wenn ich meine Schwester wiederfinden sollte, sie irgendwo da draußen, in dieser großen Welt sein sollte.
Und in der Hoffnung, dass diese Abenteuerin, deren glänzende Augen sich niemals trübten, war das Wetter auch noch so schlecht, sich entfernen konnte von den Fängen der Ungerechtigkeit und sie auswanderte, in die Teile Tares‘, zu denen ihr Herz immer fliegen wollte, suche ich nach ihr überall dort, wo auch meine Beine mich hintragen.
Ihr wolltet wissen, wie ich auf dieses Schiff nach Siebenwind gelangte? Nun solltet Ihr es wissen.